Gequält, gefoltert, ermordet
Alfons Groß verließ Nunkirchen 1934. Der Bäckergeselle machte in Nazi-Deutschland als SS-Oberscharführer eine unrühmliche Karriere, die vielen Menschen das Leben kostete.
Über Alfons Groß ist in Nunkirchen wenig bekannt. Er wurde am 29. Juli 1916 geboren, besuchte die Volksschule, machte eine Lehre und verließ Nunkirchen 1934. Nichts deutete darauf hin, dass der Bäckergeselle einmal im Lager Gusen, das mit dem Konzentrationslager Mauthausen ein Doppellager bildete, „Karriere“ machen würde. Die Urteilsbegründung des Landgerichts Hagens gegen den ehemaligen SS-Oberscharführer zeichnet das düstere Bild eines Mannes, dem die Kölner Zentrale zur Aufklärung von NS-Verbrechen unter anderem vorwarf, im KZ Gusen Häftlinge „totgebadet“ zu haben: Kranke und Arbeitsunfähige wurden in der Badebaracke, deren Abflüsse verstopft worden waren, mit eiskaltem Wasser unter Überdruck bespritzt und ins steigende Wasser zurückgestoßen, wenn sie ausbrechen wollten. Wer nicht ertrank, starb an Lungenentzündung oder Kreislaufkollaps.
Die Urteilsbegründung des Landgerichts Hagen erzählt die Geschichte des Bergmannssohns aus Nunkirchen nüchtern und schonungslos. Alfons Groß wurde 1968 zu sechs Jahren Haft verurteilt. Am 7. Februar 1973 wurde der ehemalige SS-Oberscharführer aus der Haft entlassen.
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Originalzitat aus der Urteilsbegründung des Landgerichts Hagen:
„Der bisher unbestrafte Angeklagte Gro. ist am 29 .Juli 1916 in Nunkirchen Krs.Wadern (Saargebiet) als Sohn eines Bergmannes geboren. Vom 6. bis zum 14.Lebensjahr besuchte er die katholische Volksschule und erlernte nach seiner Schulentlassung vom 1. September 1930 bis zum 1. April 1934 das Bäckerhandwerk. Er legte die Gesellenprüfung ab. Während der Lehrzeit besuchte er in Nunkirchen die Gewerbeschule und trat dort am 1. April 1933 einem HJ-ähnlichen Verband bei (damals war das Saargebiet noch nicht wieder Teil des Deutschen Reiches).
Der Angeklagte Gro. wollte jedoch nicht in seinem Beruf weiterarbeiten, da er sich leicht eine typische Erkrankung dieses Handwerks, das sog. Bäckerekzem, zuzog. Er war begeisterter Soldat, meldete sich zur Reichswehr und wurde am 1. Oktober 1934 zum Infanterieregiment 21 in Coburg einberufen, wo er bis zum 10. Oktober 1935 als Schütze diente. Während der Dienstzeit hatte die SS-Verfügungstruppe bei den Soldaten um Beitritt zur kasernierten SS geworben. Da Gro. angeblich keine andere Möglichkeit sah, Soldat zu bleiben (obwohl damals die allgemeine Wehrpflicht schon wieder eingeführt war), bewarb er sich bei der SS und wurde am 1. April 1936 zur Totenkopfstandarte „Elbe“ einberufen, die im Konzentrationslager Lichtenburg/Sachsen stationiert war. Dort erhielt der Angeklagte Gro. eine militärische Ausbildung. Gleichzeitig versah er Wachdienst beim Konzentrationslager. 1937 kam er mit seiner Einheit nach Frankenberg/Sachsen. 1938 wurde er zur Totenkopfstandarte „Brandenburg“ nach Oranienburg versetzt, wo er – mittlerweile zum Unterscharführer befördert – Rekrutenausbilder war. Dann nahm er am Einmarsch in Österreich teil.
Spätestens Anfang 1939, wahrscheinlich jedoch schon 1938, wurde der Angeklagte Gro. zum Konzentrationslager Mauthausen versetzt, wo man ihn – den gelernten Bäcker – in der SS-Küche als Lebensmittelmagazinverwalter einsetzte. Dass der Angeklagte Gro. das Aufbaukommando in Gusen zum Lageraufbau begleitet hat, konnte nicht festgestellt werden. Der Angeklagte räumt jedoch ein, er habe sich an dienstfreien Nachmittagen den Betrieb beim Aufbau des Lagers Gusen angesehen. Im Juli 1940 wurde er selbst zum Kommandanturstab des Lagers Gusen kommandiert und dort zunächst als Kommandoführer im Steinbruch eingesetzt.
Wegen einer Ekzemerkrankung an den Händen hielt er sich vom 20. bis zum 27. August 1940 zwecks stationärer Behandlung in einem Lazarett in Linz auf. Ende 1940 absolvierte er einen kurzen Zugführerlehrgang von sechs bis acht Wochen in Buchenwald und wurde im Anschluss an diesen zum Scharführer befördert. Anfang 1941 wies der Arbeitsdienstführer Kirchner ihn in die Aufgaben des Arbeitsdienstführers ein, so dass er alsbald dessen Funktionen ausüben konnte.
Im Sommer 1941 erkrankte der Angeklagte Gro. als einer der ersten SS-Leute aus Gusen an Typhus und wurde längere Zeit im SS-Revier in Gusen behandelt. Ins Lazarett nach Linz kam er jedoch nicht. Während seiner Typhuserkrankung wurde er am 6.September 1941 zum Oberscharführer befördert, und während der folgenden Typhusquarantäne wieder dienstfähig. Etwa Mitte Oktober 1941 – nachdem er zuvor als 1. Arbeitsdienstführer durch den Angeklagten Klu. abgelöst und selbst 2. Arbeitsdienstführer geworden war, trat er eine sechswöchige Kur in Bad Homburg vor der Höhe an. Nach deren Ende hielt er sich Ende November/Anfang Dezember 1941 mehrere Tage in Gusen auf und trat dann seinen Heiratsurlaub an: Am 11.Dezember 1941 ehelichte er in Saarbrücken Marianne Cze., die jetzige Zeugin Re., die er kennengelernt hatte, als er noch im Lebensmittelmagazin von Mauthausen beschäftigt war. Seine Ehefrau stammte aus Oberzirking, einem Ort in der Nähe von Mauthausen.
Nach der Eheschließung blieb Gro. noch einige Tage in Saarbrücken, fuhr dann aber mit seinen Schwiegereltern nach Oberzirking zurück und versah wieder Dienst im Lager Gusen. Nebenbei baute er die eheliche Wohnung im Hause der Schwiegereltern aus. Erst Anfang Januar 1942 kehrte seine Ehefrau nach Oberzirking zurück.
Während seiner Zeit in Gusen ließ der Angeklagte Gro. gemeinsam mit den Ingenieur Wolfram von der DEST (Deutsche Erd- und Steinwerke, ein die Steinbrüche in Gusen ausbeutendes SS-Unternehmen) von Abfällen Schweine mästen. Der Angeklagte versah weiter Dienst als 2. Arbeitsdienstführer im Lager Gusen. Das ist entgegen seiner Behauptung, er sei nach der Ablösung als 1. Arbeitsdienstführer nur noch Kommandoführer im Steinbruch gewesen, durch die glaubhaften Angaben des Angeklagten Klu. und die früheren Angaben von Gro. zu diesem Punkt bewiesen. Des Weiteren folgt dies aus dem Umstand, dass der Angeklagte Jentzsch Gro. neben Klu. als Bürgen für seine zukünftige Ehefrau in dem Heiratsgesuch vom 31. August 1942 angegeben hat. Nach der insoweit glaubhaften Angabe des Angeklagten Jentzsch ist das weniger deshalb erfolgt, weil er mit Gro. und Klu. besonders eng befreundet war, als vielmehr deshalb, weil Gro. und Klu. damals – also noch im August 1942 – Arbeitsdienstführer waren. Am 3.Januar 1943 fuhr der Angeklagte Gro. mit dem Zeugen Chmielewski nach Holland, wo er in dem neuen Konzentrationslager Vught wieder als Arbeitsdienstführer eingesetzt wurde. Am 1. September 1943 wurde er dort zum Hauptscharführer befördert.
Einige Zeit später, als der Zeuge Dr. Schm.-K. – damals Gerichtsoffizier im Wirtschafts-Verwaltungshauptamt der SS – in einer Disziplinarsache gegen Chmielewski und andere Angehörige des Kommandanturstabes von Vught ermittelte, wurde er inhaftiert und nach Oranienburg befohlen, wo er bis zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung vor dem SS-Gericht in Berlin in Stubenarrest blieb. In dem Verfahren, das etwa Mitte 1944 in Berlin stattfand, wurde Chmielewski wegen erheblicher Verfehlungen, u.a. wegen Schädigung des Ansehens der Truppe sowie wegen Misshandlung von Häftlingen, zu einer empfindlichen Freiheitsstrafe verurteilt, Gro. jedoch freigesprochen.
Gro. kam dann erneut nach Oranienburg, blieb dort jedoch nicht lange.
Während er bei seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung zunächst bewusst der Wahrheit zuwider behauptet hatte, er habe nunmehr genug vom Dienst im Konzentrationslager und von dem „Häftlingskram“ gehabt und sich mit Erfolg zu einer Kampfeinheit gemeldet, er sei dann zu einer SS-Kampfgruppe „Dusenschön“ gekommen, in der Umgebung Hamburgs eingesetzt worden und in Marne/Holstein in britische Kriegsgefangenschaft geraten, hat er diese Angaben später auf Vorhalt hin berichtigen müssen. Zunächst war aus den Akten 5 R 700/51 LG Hagen festgestellt worden, dass er sich Ende 1944 in Landeshut in Schlesien aufgehalten hatte, wo sich ein Nebenlager des Konzentrationslagers Gross-Rosen in Schlesien befand, wie dem Gericht bekannt war. Als ihm diese Tatsachen vorgehalten wurden, erklärte er, in Landeshut habe er sich nur während eines kurzen Urlaubes bei Bekannten aufgehalten und dort habe er sich mit seiner Ehefrau, der Zeugin Re., getroffen. Erst als aus deren Vernehmung hervorging, dass er in Landeshut wieder im Kommandanturstab des Konzentrationslagers eingesetzt worden war, gab er dies zu. Dieser Aufenthalt in Landeshut soll jedoch nur einige Wochen gedauert haben. Der Angeklagte will danach – letzten Endes nicht widerlegbar – zu der erwähnten Kampfgruppe gekommen sein.
Auch Gro. war während seiner Zugehörigkeit zur SS – ohne dass Zeitpunkt und Anlass geklärt werden konnten – Mitglied der NSDAP geworden und aus der katholischen Kirche ausgetreten. Kriegsauszeichnungen und Kriegsverwundungen hat er nicht erhalten.
In englischer Kriegsgefangenschaft blieb Gro. bis 1947. Er war in Deutschland als Beifahrer bei einer aus ehemaligen deutschen Soldaten gebildeten Hilfstruppe (GSO) eingesetzt. Seinen Wohnsitz hatte er 1947 in Hemer-Sundwig, wo seine Einheit stationiert war. Seine Ehefrau, die Zeugin Re., hat er nach dem Kriege nur einmal wiedergetroffen, um die Scheidung vorzubereiten. Kinder waren aus der Ehe nicht hervorgegangen.
Die Ehe wurde durch Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 10.März 1953(5 R 700/51 LG Hagen) gemäß §48 EheG geschieden.
Der Angeklagte Gro. nahm nach Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft eine Arbeitsstelle als Verkäufer bei einer Herrenoberbekleidungsfirma in Iserlohn an. Als diese Firma nach kurzer Zeit die Geschäfte aufgab, wurde er Verkäufer bei der Kleiderfabrik Schmidt & Co. in Dahlbruch bei Siegen, wo er sich eine zweite Wohnung nahm. Bei dieser Firma arbeitete er bis zu seiner Inhaftierung in dieser Sache am 4. November 1964 auf Grund des Haftbefehls des Amtsgerichts Iserlohn vom selben Tage. Er verdiente als Textilverkäufer zuletzt 850,- DM brutto monatlich und bekam dazu noch Verkaufsprämien.
Im Jahre 1956 hat der Angeklagte mit seiner jetzigen Ehefrau, die er seit 1947 kannte, die Ehe geschlossen; auch aus dieser Ehe sind Kinder nicht hervorgegangen.
In Untersuchungshaft befand sich der Angeklagte Gro. vom 4. November 1964 bis zum 7. Mai 1965 und erneut ab 6. Januar 1966 bis zum Tage der Urteilsverkündung. Auch in der Zeit der Haftverschonung arbeitete Gro. wieder bei der Firma Schmidt in Dahlbruch.
Die Aussage, dass Alfons Groß am 1. April in Nunkirchen „einem HJ-ähnlichen Verband“ beigetreten sei, stimmt insofern nicht, dass es in Nunkirchen die HJ damals bereits gab. In der Urteilsbegründung des Landgerichts Hagen wird ausgeführt, dass die Jugendorganisation der NSDAP deshalb noch nicht in Nunkirchen auf den Plan getreten sei, weil die Region noch zum Saargebiet gehörte. Das stimmt indes nicht. Nunkirchen war auch in der Zeit der Völkerbundverwaltung des Saargebiets Teil des Deustchen Reiches.
Vgl. Rüter, C. F./de Mildt, D. W. (Hg.): Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945-1999, Band XXX, München 2004, Lfd. Nr. 692, LG Hagen, 11 Ks 2/65, Urteil Alfons Groß, Heinz Jentzsch, Helmut Kluge und Wilhelm Stiegele, 29. Oktober 1968. S. 414-687.